Erinna an Sappho
Erinna, eine hochgepriesenejunge Dichterin des griechischen Altertums um 600 v. Chr., Freundin und Schülerin Sapphos zu Mytilene auf Lesbos, starb als Mädchen mit neunzehn Jahren.
- (1)
- »Vielfach sind zum Hades die Pfade«, heißt ein
- Altes Liedehen - »und einen gehst du selber,
- Zweifle nicht!« Wer, süßeste Sappho, zweifelt?
- Sagt es nicht jeglicher Tag?
- Doch den Lebenden haftet nur leicht im Busen
- Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer von Kind auf
- Hört im stumpferen Ohr der Wogen Geräusch nicht mehr.
- - Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Vernimm!
- (2)
- Sonniger Morgenglanz im Garten,
- Ergossen um der Bäume Wipfel,
- Lockte die Langschläferin (denn so schaltest du jüngst Erinna)
- Früh vom schwüligen Lager hinweg.
- Stille war mein Gemüt; in den Adern aber
- Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.
- (3)
- Als ich am Putztisch jetzo die Flechten löste,
- Dann mit nardeduftendem Kamm von der Stirn den Haar
- Schleier teilte - seltsam betraf mich im Spiegel Blick in Blick.
- Augen, sagt ich, ihr Augen, was wollt ihr?
- Du, mein Geist, heute noch sicher behaust da drinne,
- Lebendigen Sinnen traulich vermählt,
- Wie mit fremdendem Ernst, lächelnd halb, ein Dämon,
- Nickst du mich an, Tod weissagend!
- - Ha, da mit eins durchzuckt' es mich
- Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein tödlicher Pfeil
- Streifte die Schläfe hart vorbei,
- Daß ich, die Hände gedeckt aufs Antlitz, lange
- Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab.
- Und das eigene Todesgeschick erwog ich;
- Trockenen Augs noch erst,
- Bis da ich dein, 0 Sappho, dachte,
- Und der Freundinnen all,
- Und anmutiger Musenkunst:
- Gleich da quollen die Tränen mir.
- (4)
- Und dort blinkte vom Tisch das schöne Kopfnetz, dein Geschenk,
- Köstliches Byssusgeweb, von goldnen Bienlein schwärmend.
- Dieses, wenn wir demnächst das blumige Fest
- Feiern der herrlichen Tochter Demeters,
- Möcht ich ihr weihn, für meinen Teil und deinen;
- Daß sie hold uns bleibe (denn viel vermag sie),
- Daß du zu früh dir nicht die braune Locke mögest
- Für Erinna vom lieben Haupte trennen.
